Stress hat einen schlechten Ruf. Und ja, chronisch am Limit zu sein, tut niemanden gut. Aber wohldosiert kann ein wenig Stress tatsächlich viel Positives bewirken.
Die britische Regierung hat herausgefunden, dass bereits vor der Covid-Pandemie „die Anzahl der Personen, die von arbeitsbedingten Stress-, Depressions- oder Angstzuständen berichten, zugenommen hat“, wobei 2020/21 ein Rekordhoch verzeichnete. Kein Wunder, dass 74 % der Erwachsenen im Vereinigten Königreich angaben, sich im vergangenen Jahr überfordert oder außerstande gefühlt haben, im Alltag klarzukommen. Zugegeben, kein sehr aufmunternder Einstieg in diesen Artikel. Aber bleib dran, es wird besser!
Okay, dass Stress schlecht ist, wissen wir alle. Neu dürfte aber einigen sein, dass Stress in vielen verschiedenen Formen auftritt. „Stress an sich ist ein physiologischer Zustand, aber die Art des Stresses, seine Intensität und wann er auftritt, kann uns auf vielerlei Art beeinträchtigen und sogar lebensbedrohlich sein“, erklärt Dr. Hana Patel, Hausärztin und Mental Health Coach.
Stress kann Gesundheitsprobleme mit potenziell tödlichen Folgen begünstigen, wie Herzkrankheiten, Bluthochdruck, Schlaganfälle und Schlafstörungen, fügt Dr. Patel hinzu. Chronischer Stress lässt überdies den Spiegel der Glucocorticoide (Stresshormone aus der Nierennebenrinde) ansteigen, die wiederum die Produktion neuer Neuronen im Hippocampus unterdrücken und das Gedächtnis beeinträchtigen.
Tatsächlich ist Stress nicht per se etwas Schlechtes. Dr. Patel klärt auf, dass Stress aus biologischer Sicht eine positive Reaktion ist: „Wenn wir gestresst sind, reagiert unser Körper mit einem Anstieg der Hormone Adrenalin und Cortison, die den Blutdruck und den Zuckerspiegel erhöhen, um unseren „Kampf- oder Flucht“-Modus zu aktivieren und auf eine Bedrohung zu reagieren.“ Du musst deinen Hund von einem aggressiven Beißer wegziehen? Das Auto vor dir bremst plötzlich stark ab? Hier kommt dir der „Kampf- oder Flucht“-Modus zugute.
Dieser „gute Stress“ kann Gefühle der Aufregung, Erfüllung und Zufriedenheit auslösen. Der Nervenkitzel einer Achterbahnfahrt, das Hochgefühl nach einem anstrengenden Lauf und das Glücksgefühl nach der erfolgreichen Pitch-Präsentation sind Beispiele dafür.
„Stress ist deine nicht kontrollierte emotionale Reaktion auf die Wahrnehmung von Ereignissen im Leben, auch Stressoren genannt“, erläutert Louise Sanders, Stressberaterin bei The Stress Experts. „Wir zeigen eine emotionale Reaktion auf der Grundlage dieser Wahrnehmungen, die wir als gut oder schlecht einstufen.“
Als Beispiel führt Sanders ein Arbeitsprojekt an, das als „großes Hindernis, als Bremsklotz, als Riesenhaufen Arbeit, als Last oder als unüberwindbares Problem“ angesehen wird und so Gefühle wie Angst, Depression, Furcht, Frustration oder Unruhe herbeiführen könnte. „In einem solchen Zustand wären dein Körper, Gehirn, Herz und Verstand nicht in Topform“, sagt sie.
Jemand anderes hingegen könnte dasselbe Arbeitsprojekt als Herausforderung, als spannendes Rätsel, das es zu knacken gilt, oder als Lektion fürs Leben betrachten. „Eine solche Wahrnehmung würde zu Emotionen und Gefühlen wie Mut, Ausdauer und Lebensfreude führen, was die Gehirnfunktion verbessern und die Ausschüttung von Dehydroepiandrosteron bewirken würde, was wiederum zu einer besseren Selbsteinschätzung von Gesundheit, Vitalität und Wohlbefinden führt“, so Sanders. Kurz gesagt: Die meisten Ereignisse sind weder gut noch schlecht, aber deine Wahrnehmung beeinflusst, wie du sie beurteilst.
Es spricht also einiges dafür, dass Stress missverstanden wird. Der Begriff „Eustress“ (von Griech. „eu“ = „gut“) findet zunehmend Anerkennung und bezeichnet eine Stressreaktion, die zu einer positiven Reaktion führt und als das Gegenteil von negativem Stress angesehen werden kann. Daniela Kaufer, außerordentliche Professorin für integrative Biologie an der University of Berkeley, Kalifornien, hat herausgefunden, dass eine gewisse Menge Stress positiv sein kann: „Ein gewisses Maß an Stress ist gut, um für optimale Wachsamkeit zu sorgen sowie die verhaltensbezogene und kognitive Leistung zu maximieren“, erklärt sie.
Kaufer und Elizabeth Kirby, Postdoktorandin an der University of Berkeley, fanden heraus, dass dieser kurzzeitige – im Gegensatz zu chronischem – Stress das Gehirn auf Leistung trimmt. Zumindest ist das bei Ratten der Fall. Laut Bruce McEwen, Leiter des „Harold and Margaret Milliken Hatch Laboratory of Neuroendocrinology“ an der Rockefeller University in New York City „bestätigen diese Ergebnisse die Vorstellung, dass Stresshormone einem Tier bei der Anpassung helfen – schließlich ist es von Vorteil, sich an den Ort zu erinnern, an dem etwas Stressiges passiert ist, um mit zukünftigen Situationen am selben Ort umzugehen.“
Dr. Patel glaubt, derselbe Prozess könne auch Menschen helfen – insbesondere im Hinblick darauf, Erfahrungen und Situationen positiv zu reflektieren. „Der Begriff ‚Stress‘ wurde durch seinen Gebrauch in der Alltagssprache mit dem negativen Ergebnis von Distress gleichgesetzt; dieser Artikel vertritt eine alternative Sichtweise, die den Mythos vom Stress als inhärent negativ letztlich zurückweist. Die Vermeidung von Distress ist wichtig, aber wir betrachten Stress im weiteren Sinne als etwas, das sowohl positive als auch negative Folgen haben kann“, schreiben die Autoren einer Studie aus dem Jahr 2019 mit dem Titel „The Stress Paradox“, welche Stress aus der Perspektive von Studierenden und dem Lernprozess betrachtet.
„In der Ausbildung von Fachkräften im Gesundheitswesen werden die Begriffe ‚Stress‘ und ‚Distress‘ heute leichtfertig gleichgesetzt. Das Vorhandensein von Stress wird oft als Hindernis für das Lernen dargestellt“, so die Autoren der Studie weiter. „Die ausschließliche Konzentration auf ‚Distress‘ kann jedoch eine Einschränkung sein, da sie der Anerkennung der positiven Auswirkungen von Stress im Weg steht.“ Die Autoren sprechen von „Eustress“ als „optimaler Stressmenge“ und verweisen auf seine positiven Assoziationen beim Sport und bei der Arbeit.
Die wichtigste Erkenntnis ist, dass ein gewisses Maß an Stress mit mehr Motivation, einem unterstützungssuchenden Verhalten und härterer Arbeit in Verbindung gebracht wurde, ebenso mit einer verbesserten geistigen Funktion, optimierter neuronaler Verarbeitung und einer höheren Gedächtnisleistung. Laut den Autoren der Studie von 2019 ist es unsere individuelle Interpretation von Stress, die ihm eine negative oder positive Wirkung verleiht.
Folglich sollten wir also in der Lage sein, das Gefühl von Stress zu unserem Vorteil zu nutzen. „An der Redensart ‚Geist ist stärker als die Materie‘ ist viel Wahres dran“, meint Desiree Silverstone, Psychotherapeutin und Executive Coach bei Head Honchos. „Das Gefühl, gestresst zu sein, hängt unmittelbar damit zusammen, wie wir es wahrnehmen. Die Macht der richtigen geistigen Einstellung kann hier gar nicht hoch genug bewertet werden.“
Silverstone erklärt, dass Stress unser Verbündeter sein kann, z. B. wenn wir einen neuen Job antreten oder in eine neue Stadt ziehen. Grund hierfür sind das Adrenalin und Cortisol in unserem Körper, die dafür sorgen, dass wir motivierter sind und besser mit neuen Situationen zurechtkommen.
Stress hilft uns auch, soziale Bande zu knüpfen. Wenn wir unseren Stress bei einem Freund „abladen“, schütten wir Oxytocin aus, das uns ein Gefühl der Verbundenheit und Offenheit schenkt, erklärt Silverstone. „Katastrophen wie Erdbeben und Tsunamis zeigen das. Wenn wir unter akutem Stress stehen, werden wir offener, kooperativer und hilfsbereiter.“
Mit der Zeit wirkt sich Stress auf unsere Neuroplastizität (Anpassungsfähigkeit des Gehirns) aus, prägt sich ein und hilft uns, das nächste Mal, wenn wir in eine ähnliche Situation geraten, besser damit umzugehen. Je öfter wir uns mit stressigen Situationen auseinandersetzen, so Silverstone, desto mehr Dopamin wird ausgeschüttet, um uns für den guten Umgang mit einer stressigen Situation zu belohnen. Deshalb werden wir selbstbewusster, je mehr Vorstellungsgespräche, Online-Dates, Pitch-Meetings und Bungee-Sprünge wir erleben.
Mit anderen Worten: Wenn wir in der Lage sind, Stress zu erkennen und ihn nicht als etwas Negatives, sondern als etwas Nützliches betrachten, können wir mit der Zeit lernen, ihn zu unserem Vorteil zu nutzen. Gerade, wenn es darum geht, große Meetings im Job zu meistern und riesige Projekte zu übernehmen, die uns zunächst zu überfordern scheinen. Du musst eine wichtige Präsentation vorbereiten? Du bist kein Büromensch, der nervös in der Luft zappelt, sondern ein Höhlenmensch, der einen Säbelzahntiger erlegt, um seinen Stamm zu schützen! Perspektive ist alles. Stell dir einfach vor, wie gut sich das anfühlt, wenn du es geschafft hast.
Das soll aber nicht heißen, dass Stress jedweder Art positiv ist. Mach nicht den Fehler, dauerhaft belastenden Stress für den Motor zu halten, der dich die Karriereleiter hinaufbefördert. Ganz im Gegenteil: Wie oben beschrieben, kann diese Art von Stress deine geistige und körperliche Gesundheit langfristig beeinträchtigen und buchstäblich tödlich sein.
Der Schlüssel ist, dir deinen Stress bewusst zu machen und zu entscheiden, wie du am besten damit umgehst, auf ausgewogene und gesunde Weise. „Es ist wichtig, in dich hineinzuhorchen“, rät Rebecca Lockwood, Lehrerin für Neurolinguistisches Programmieren. „Wenn du dich täglich gestresst und überfordert fühlst, ist das ein Anzeichen dafür, dass du unter chronischem Stress stehst, der nicht gut für dich ist.“
Und nicht vergessen: Selbst die heftigste Dosis positiver Stress tut nicht so gut, wie entspannt am Strand zu liegen, mit einem kühlen Drink in der Hand. Auch die Ambitioniertesten und Leistungsstärksten unter uns brauchen ab und zu eine wirklich stressfreie Auszeit.
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